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Channel: Lesetipps – Lilos Reisen
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Mörder ohne Gewissen

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Viveca Sten ist bekannt dafür, dass sie in ihren Krimis heikle Themen anpackt. Der ehemaligen Chefjuristin bei der schwedischen Post geht es nicht um oberflächliche Brutalität, sie interessieren die Hintergründe, die zum Mord führen – und die können oft ganz andere sein als erwartet.
Das trifft auch auf den sechsten Fall zu, den der sympathische Ermittler Thomas Andreasson zu lösen hat. Handelt es sich bei der Toten, die man ausgerechnet nach Heiligabend erfroren vor dem Seglars Hotel auf Sandhamn findet, doch um eine prominente Kriegsberichterstatterin und investigative Journalistin. Während Thomas an dem offenbar komplizierten Fall zu knabbern hat und an der Rolle des Exmannes kaut, hat seine Jugendfreundin Nora ganz andere Probleme. Der neue Chef der erfolgreichen Bankjuristin spielt ein falsches Spiel und drängt sie zu einer Entscheidung, die ihr Leben verändern wird.
So spielen viele Dinge mit in diesem spannenden Krimi, bei dem ein weiterer Mord und ein Mordversuch die Ermittler auf Trab halten: Mobbing im Beruf, Ausländerfeindlichkeit (Thomas‘ Kollege Aram wird bei der Recherche im Dunstkreis der rechten Partei schwer verletzt), Karrieresucht, die Berufsrisiken von kritischen Journalisten und die Schwierigkeiten, einen anspruchsvollen Beruf mit Familienpflichten in Einklang zu bringen. Entsprechend groß ist zunächst auch der Kreis der Verdächtigen, den Thomas auch mir Noras Hilfe reduzieren kann – bis er auf einen Täter stößt, dessen Kaltblütigkeit auch den abgebrühten Ermittler entsetzt…
Info: Viveca Sten: Tod in stiller Nacht, Kiepenheuer & Witsch, 398 S., 14,99 Euro


Die Flügel der Fantasie

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Rafal ist fast neun Jahre alt, und er lebt mit seinem Großvater im Getto von Warschau. Irgendwie kennt er kein anderes Leben, denn das, was vor dem Getto war, hat er vergessen. Dass es einmal eine Zeit gab, in der es keinen Krieg gab und auch keinen „Bezirk“, wie die Einwohner das Getto nennen. Auch an die Zeit mit seinen Eltern, die vor Jahren nach Afrika ausgewandert sind, kann sich Rafal kaum mehr erinnern. Der Großvater ist alles, was er an Familie hat.
Und dann will ausgerechnet dieser Großvater ihn wegschicken. Rafal versteht die Welt nicht mehr. Er ahnt nicht, wie schwer auch dem alten Mann die Trennung von seinem Enkel fällt. Nur, dass sie ihm das Wertvollste wert ist, was er hat, das sieht der Kleine schon. Denn Großvaters Geige, die den beiden den Lebensunterhalt gesichert hat, bleibt bei den Leuten zurück, die Rafal eine Zukunft sichern sollen – bei einer polnischen Familie.
Doch der kleine Jude sieht so gar nicht wie ein Pole aus, deshalb muss er sich die Haare bleichen lassen. Eine schmerzhafte Prozedur, die ihm karottenrote Pumucklhaare beschert. Es soll noch schlimmer kommen: Stella, die nette Fluchthelferin, die den kleinen Bücherwurm ins Herz geschlossen hat, kann ihn nicht wie geplant bei der polnischen Familie unterbringen. Die Nazis haben sie im Visier.
So kriecht Rafal, krank an Leib und Seele, im verwilderten Zoo unter, wo er vergeblich darauf wartet, dass Stella zurückkommt. Die Zeit vertreibt er sich mit Träumen über die „Zeitmaschine“ von H.G. Wells, die er noch im Getto gelesen hat. Und er lernt Emek kennen, der sich im Zoo gut organisiert hat – und Lidka, die Tochter von Nachbarn aus dem „Bezirk“.
Der polnische Autor Marcin Szcygielski beschreibt in dem vielschichtigen Roman „Flügel aus Papier“ ein Kinderleben, wie wir es uns heute nicht mehr vorstellen können. Ein Leben in Hunger und Not, in Angst vor Verfolgung, aber immer noch besser als das Leben im Getto, das Rafal an den großen Käfig erinnert, in dem die Vögel im Zoo herumflattern konnten. Aber er schildert auch, dass Rafal und seine Freunde manchmal sogar Spaß haben, wenn sie ihre kleinen Diebstähle als Abenteuer inszenieren. Oder wenn Emek, der ein bisschen an Huckleberry Finn erinnert, seine Arche baut, mit der die Kinder in die Freiheit entkommen wollen.
Ein ganz besonderes Abenteuer aber hat der fiebernde Rafal da schon erlebt – mit der Zeitmaschine. Aus dem Zoo ist er direkt in die Zukunft gereist, in unsere Zeit, in der ihm alles sehr merkwürdig vorkommt: Die Menschen tragen bunte Unterhosen und Unterhemden mit Bildern drauf. Sie haben Drähte im Ohr und tragen Kästchen auf der Brust. Rafal kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Seine Karottenhaare fallen gar nicht mehr auf. Im Gegenteil, das Mädchen Aska findet sie „krass“. Schon wegen Cola und Hot Dogs könnte Rafal an der neuen Zeit Gefallen finden. Doch dass ein paar Jungs mit einem Brotlaib Fußball spielen, das will ihm, der für ein Stück Brot weite Wege auf sich genommen hätte, nicht in den Kopf.
Nur knapp überlebt der kleine Zeitreisende den Zusammenstoß mit einem der neuartigen Automobile. Wer ihn gerettet hat, erfahren die Leser ganz zum Schluss. Da weiß auch Rafal, dass selbst die Möglichkeiten von Zeitreisen beschränkt sind. „Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern“, hat ihm der Zeitreisende verraten. „Nur die Zukunft liegt in unseren Händen.“ Und dann sagt er noch etwas ganz Wichtiges: „Wenn man sich an das Vergangene erinnert, an Gutes wie an Schlechtes, kann man die Zukunft so gestalten, dass sie besser ist als die Vergangenheit.“
Mit seinem Roman, der scheinbar unbekümmert Unvereinbares zusammenbringt, den Holocaust mit Fantasy, den Schrecken und das Abenteuer, hilft der 43-jährige Szcygielski dabei, die Erinnerung wachzuhalten. Nicht mit strenger Ermahnung, sondern mit bester Unterhaltung. Das gelingt ihm auch deshalb so gut, weil er alles – die Gegenwart und die Zukunft – aus der Perspektive des kleinen Rafal schildert, für den Traum undWirklichkeit ganz natürlich in einander übergehen. Sind doch die Bücher für ihn die „Flügel aus Papier“, die ihn aus dem Alltagselend in eine andere Welt tragen.

Marcin Szczygielski, Flügel aus Papier, Sauerländer, S. Fischer, 285 S., 13,99 Euro, ab 10

“Der Löwe verschlingt unser Menschsein”

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Es ist eine fremde, exotische Welt, in die Mia Coutos Roman „Das Geständnis der Löwin“ die Leser entführt. Eine Welt der geheimnisvollen Magie, voller Poesie aber auch voller Gewalt. Der Sohn portugiesischer Einwanderer und mosambikanischer Staatsbürger hat sowohl eine europäische Außen- als auch eine afrikanische Innenansicht vom dörflichen Leben in Mozambique. Das macht seine Romane so wichtig, vermitteln sie doch zwischen den Kulturen und den Kontinenten.
Bevor er ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller wurde, war Couto als Journalist tätig. Dieser Erfahrung hat er die sprachliche Disziplin zu verdanken, die er in den Dienst einer einfühlsamen, oft auch poetischen, Beschreibung der afrikanischen Lebenswelten stellt. Im „Geständnis der Löwin“ stellt er zwei Ich-Erzähler einander gegenüber, die alternierend ihre Sicht der Ereignisse schildern, die ein abgelegenes Dorf in Angst und Schrecken versetzt haben: Das Mädchen Mariamar und den Jäger Arcanjo Baleiro.
Mariamar ist die Tochter von „Assimilierten“, also von Schwarzen, die sich den portugiesischen Kolonialherren und deren Lebensweise angepasst haben. Im mittlerweile selbstständigen Mozambik bleiben sie Außenseiter. Als Mariamars Schwestern hungrigen Löwen zum Opfer fallen, gerät das Dorf in Aufruhr. Die Hoffnung der Einwohner richtet sich auf den Jäger Arcanjo Balero, der mit einem Schriftsteller anreist und über seinen Einsatz Tagebuch schreibt. Schon bei einer früheren Jagd hatte Mariamar diesen jungen Mulatten kennen- und lieben gelernt. Doch Baleiro hat sie längst vergessen und schwärmt von seiner neuen Liebe.
Wie die beiden Protagonisten kommen auch ihre beiden Erzählungen nicht zusammen. Im Gegenteil, es tut sich eine Kluft auf zwischen Mann und Frau, zwischen Glaube und Realität, zwischen dem selbstverständlichen Machismo der Bauern und dem Emanzipationsbestreben der jungen Frauen, zwischen der portugiesischen Firniss und der schwarzen Seele. Mia Couto kennt sie wohl. „Der Streit findet in einer anderen Welt statt“, lässt er den Jäger berichten, „einer Welt, in der die Toten und die Lebenden keine Übersetzung brauchen, um einander zu verstehen.“
Die Leser freilich müssen lernen, zwischen den Zeilen zu lesen wie der Schriftsteller lernen muss, hinter dem scheinbar Folkloristischem die tragische Realität zu erkennen. „Der Löwe“, ahnt der Jäger, „frisst nicht nur Menschen. Er verschlingt auch unser Menschsein.“ Für das Verständnis der rätselhaften Ereignisse ist die „Vorbemerkung“ unerlässlich. Hier schreibt Mia Couto, dass er von einer wahren Begebenheit zu seinem Roman inspiriert wurde. 2008 wurden 26 Menschen im Norden Mozambiks von Löwen getötet. Erst nach zwei Monaten gelang es den angeforderten Jägern die Tiere zu töten – auch weil die Menschen vor Ort ihnen suggerierten, die wahren Täter seien Bewohner der unsichtbaren Welt. „Nach und nach“, so Couto, „wurde den Jägern klar, dass die Rätsel, vor denen sie standen, lediglich Symptome sozialer Konflikte waren, die zu lösen ihre Möglichkeiten weit überstieg.“
Info: Mia Couto, Das Geständnis der Löwin, Unionsverlag, 270 S., 19,95 Euro

Tatwaffe Maibaum

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Das Plot ist ganz schön verrückt – u.a. geht um einem Maibaum als „Tatwaffe“ -, aber das ist bei Andreas Föhr ja nichts Ungewöhnliches. Schließlich schafft es der im bayerischen Wasserburg lebende gelernte Jurist, in seinen Krimis spielend, die zwei scheinbaren Gegenpole Spannung und Witz unter einen Hut zu bringen. Für sein Romandebüt „Der Prinzessinnenmörder“ wurde der erfolgreiche Drehbuchautor Föhr, Jahrgang 1958, mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Es folgten „Schafkopf“, „Karwoche“, „Schwarze Piste“ und „Totensonntag“. Jetzt also „Wolfsschlucht“. Auch in Föhrs sechstem Krimi darf der „Anarcho-Bayer“ Leonhardt Keuthner wieder seine Lust am „Zündeln“ ausleben und der Kommissar Clemens Wallner seine Liebe zur Pedanterie.
Der Autor, selbst in der Gegend rund um den Tegernsee groß geworden, will sich „den inneren Blick“ auf seine Landsleute bewahren, um Klischees zu vermeiden, sagte er in einem Interview. Lokalkolorit ja, Klamauk nein. Das gilt auch für den oberbayerischen Dialekt, den Föhr eher sparsam einsetzt. Der neue Fall der Kripo Miesbach führt Föhrs Vorliebe für schrägen Witz und leise Zwischentöne aufs Beste vor: Eine Frau wird vor einem Friedhof entführt, ein Bestattungsunternehmer versinkt samt seinem Leichenwagen in der Mangfall. Und dann wird der Wagen der Entführten in der abgelegenen Wolfsschlucht gefunden – aufgespießt von einem Maibaum. Klar, dass der Kreuthner auch da seine Finger im Spiel hat. Die Handlung klingt fast schon hirnrissig, und trotzdem funktioniert der Krimi so gut, dass man das Buch am liebsten gar nicht mehr aus der Hand legen will. Ein Trost für alle Leser, die viel zu schnell am Ende der fast 400 Seiten angekommen sind: Der nächste Föhr-Krimi kommt bestimmt.

Info: Andreas Föhr, Wolfsschlucht, Knaur, 394 S., 14,99 Euro

Scheinwelten

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„Sie sagen immer: Dort ist ein Layer. Du weißt schon, englisch für Schicht. Weil du mit dem Visioner das sehen kannst, was sie wie Schichten über die Wirklichkeit legen.“

Ursula Poznanski hat schon mit ihrem ersten Roman „Erebos“ die Gefahren der neuen technologischen Möglichkeiten aufgegriffen und mit dem intelligenten und gut gemachten Thriller den Jugendliteraturpreis der Jugendjury gewonnen. Jetzt legt die österreichische Autorin noch einmal nach und mit „Layers“ einen All-Age-Roman vor, der sich mit den Möglichkeiten einer Datenbrille befasst. Google glass stand wohl Pate für die Idee, doch das, was Poznanski daraus macht, kann dem Silicon-Valley-Riesen wohl kaum gefallen.
Denn der Visioner, um den es hier geht, bringt nicht nur die Geheimnisse von Menschen ans Licht, er kann sie auch mittels getürkter Botschaften manipulieren. Das muss der 16-jährige Dorian schmerzlich erfahren. Der vor seinem prügelnden Vater auf die Straße geflohene Jugendliche erfährt nach einer Auseinandersetzung mit einem diebischen Penner den Schock seines Lebens. Als er aufwacht, liegt der Mann in einer Blutlache neben ihm. Hat Dorian ihn umgebracht und die Tat verdrängt? Wie gerufen kommt da ein junger Mann, der dem obdachlosen Jungen ein neues Heim verspricht – und dabei scheinbar kaum auf den toten Penner achtet.
Als er in die Villa von Raoul Bornheim kommt, kann Dorian sein Glück kaum fassen. Der Millionär scheint sich für in Not geratene Jugendliche zu engagieren – ohne etwas dafür einzufordern. Doch der erste Eindruck täuscht. Bornheim setzt die Jugendlichen zur Verteilung von Flugblättern und Werbegeschenken ein. Dorian lässt sich zunächst bereitwillig darauf ein, zumal er sich in Stella, ein Mädchen aus der Villa, verliebt hat. Doch irgendwann wird er misstrauisch. Da gibt es zu viele Vorschriften und merkwürdige Farbregeln. Warum bekommt er plötzlich rote Kleidung statt der bisherigen grünen? Warum dürfen die Jugendlichen in der Villa nicht sehen, wo sie steht? Und warum schreckt einer der Adressaten, dem Dorian eines der geheimnisvollen Werbegeschenke überreichen soll, vor der Annahme zurück?
Als Dorian das Kästchen öffnet, macht er sich zum Außenseiter. Denn die Brille, die er darin findet, liefert ihm Wissen, das nie für ihn bestimmt war und ihn zu einer Gefahr für die Drahtzieher hinter der Villa macht. Dorian kann nicht zurück, er wird zum Gejagten, der immer öfter die virtuelle Realität nicht mehr von der Wirklichkeit trennen kann. Am Ende zieht er fatale Schlüsse und arbeitet so denen in die Hände, die ihn von Anfang an manipuliert haben.
Wie immer gelingt es Ursula Poznanski die Leser mit unerwarteten Wendungen zu verblüffen. So hält sie  trotz einiger Längen die Spannung bis zum doch noch guten Ende. Die Fragen, die sie in ihren spannenden Thriller verpackt, sind nicht nur für junge Leser wesentlich: Kann ein guter Zweck alle Mittel heiligen, auch die von Terror-Akten? Wie leicht lassen sich Menschen manipulieren, wenn sie am Rand der Gesellschaft stehen? Und schließlich auch: Was ist Realität?
Info: Ursula Poznanski, Layers, 445 S., 14,95 Euro, ab 15, www.layers-buch.de

Rächer der verlorenen Ehre

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Auf dem Titel ist ein stiernackiger Mann von hinten zu sehen. Tobias Knopp, „Das Monster von Neuhausen“. „Protokoll“ nennt Ernst Augustin den schmalen Band. Tatsächlich geht es um die Verteidigung eines Mannes, dem himmelschreiendes Unrecht passiert ist und der sich mit einer Axt gerächt hat. Auch wenn sich der Verteidiger in seinem mäandernden Plädoyer immer verhaspelt und den Tathergang mit abstrusen Gedankengängen verkompliziert, hat es für alle, die Krankenhauserfahrung haben, Wiedererkennungswert. Denn klar wird: Der Schreibwarenhändler Knopp, der später zum Monster wird, ist zunächst Opfer. Ein Opfer der Krankenhausdiktatur: Einer der Götter in Weiß, ein Professor, hat ihm bei der Entfernung eines gutartigen Gehirntumors den Sehnerv durchschnitten. Nicht genug damit, er demütigt den nun „hirnblinden“ Patienten, indem er ihn seinen Studenten als Simulanten vorführt. Knopp fühlt sich seiner Ehre beraubt und nimmt Rache. Für seinen Anwalt nicht nachvollziehbar. Denn was ist das, Ehre? Eine sinnlose Form? Auf alle Fälle eine ganz persönliche Angelegenheit. Der Verteidiger führt sich selbst ad absurdum. Seinem Mandanten ist wohl nicht mehr zu helfen.
Ebenso wenig wie dem 87-jährigen Autor selbst. Der promovierte Mediziner und langjährige Weltenbummler hat vor ein paar Jahren die Operation, die er in diesem Büchlein schildert, selbst durchlitten und dabei sein Augenlicht fast völlig verloren. Und er hat eine ähnliche Erfahrung gemacht wie Tobias Knopp. „Der Operateur war ein Pfuscher, der seinen guten Ruf darauf aufbaute, alles zu leugnen, was ihm schiefging“, sagte Augustin in einem SZ-Interview. Der Schriftsteller braucht keine Axt, um sich zur Wehr zu setzen. Seine Rache ist subtiler. Er lässt den Anwalt das ganze Chefärztesystem an den Pranger stellen: „Eine Chefvisite ist ein großes kosmisches oder fast kosmisches Ereignis mit allen Zeichen… Als halte die Menschheit den Atem an… Nein, es ist nicht Gott, der kommt, wir müssen das auseinanderhalten, nicht Er kommt, aber er kommt. Der Chefarzt.“
Man sieht, dieses Protokoll hat es in sich!
Info: Ernst Augustin, Das Monster von Neuhausen, C. H. Beck, 116 S., 16,95 Euro

 

Kleines Welttheater

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Schon der Titel lässt einiges erwarten: Villa Metaphora heißt der neue Wälzer des italienischen Erfolgsautors Andrea de Carlo. Und der Roman wird dem mehrdeutigen Titel mehr als gerecht. De Carlo inszeniert auf einem Felseninsel im Meer nahe Sizilien, wo der Architekt Gianluca Perusato, ein Luxusresort für Superreiche konzipiert hat, nichts weniger als ein kleines Welttheater.
Das Personal, das er dazu auf der unwirtlichen Insel versammelt, ist auserlesen reich oder prominent und entsprechend anspruchsvoll: Die Hollywood-Diva Lynn-Lou Shaw, ein durch den Starkult sowie Drogen- und Alkoholmissbrauch durchgeknalltes Gör mit seinem Noch-Ehemann, Brian Neckhart, einem Möchtegern-Psychologe. Das vornehm-zurückhaltende Ehepaar Cobanni. Der mächtige Banker Reiff, der über eine Liebelei mit einem Teenager gestolpert ist, mit seiner ungeliebten Frau. Die bissige Undercover-Journalistin Poulanc. Die nachdenkliche Lara, die Lynn-Lou Shaw eingeladen hat. Dazu kommen der von seiner Kunst überzeugte Koch Ramiro, der virile Bootsmann Carmine, der vergeistigte Schreiner Pablo und Perusatos Geliebte, die bodenständige Lucia. Eine brisante Mischung für ein Resort, das weit weg ist von allem und sich bestens für soziale Experimente à la „Herr der Fliegen“ eignen würde.
Doch es kommt noch schlimmer. Der aufdringliche Politiker Gomi stößt zu den Gästen, Reiffs Adlatus, der beflissene Mathias, folgt seinem Chef ins Exil, ein russischer Magnat mit seiner Gefolgschaft erkauft sich ein Abendessen. Es gärt merklich in der so unpassend zusammengewürfelten Gemeinschaft. Nur die Cobannis scheinen in ihrer Weltentrücktheit gegen die Spannungen immun zu sein. Und Lara und Paolo, die sich – Außenseiter, die sie beide sind – zueinander hingezogen fühlen. De Carlo gibt jeder seiner Personen eine eigene Stimme. Lässt den in die Diva vernarrten Carmine in einem kruden Sprachmix palavern und den Hollywood-Star in einem Gossenjargon. Er lässt die neugierige Journalistin selbstgerecht die Sünden der anderen im Netz recherchieren, den Politiker über die Ungerechtigkeit der Welt lamentieren und den sensiblen Koch am Geschmack der betuchten Gäste verzweifeln. So entlarvt sich jeder selbst. Nicht nur der schöne Schein trügt, auch die Gäste und ihre Gastgeber entdecken in der Grenzsituation ganz neue Seiten an sich.
Doch immer lauert da etwas im Hintergrund, etwas Unheimliches, schlimmer als die Menschen, die im Streit mal mit Worten aber auch mit den Fäusten übereinander herfallen. Es gibt die ersten Toten und dann ist die Villa wirklich von der Welt abgeschnitten. De Carlo entwirft ein apokalyptisches Szenario bis hin zu einer schaurigen Höllenfahrt. Ein abgründiges, witziges, spannendes Buch, das man am Ende nur ungern aus der Hand legt, auch wenn es der italienische Autor mit seiner hochromantischen Liebesgeschichte zwischen Lara und dem Schreiner etwas übertreibt.
Info: Andrea de Carlo, Villa Metaphora, Diogenes, 1088 S. , 26 Euro

 

Da waren es nur noch zwei

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Die Idee ist eigentlich gar nicht so abwegig. Fünf Freunde beschließen – alt geworden – in einer Villa zusammen zu ziehen und gemeinsam das Lebensende zu bewältigen – lässig-nonchalant wie sie bisher gelebt haben. Und, um ganz sicher zu gehen, schließen sie einen Pakt: Jeder von ihnen soll selbstbestimmt sterben können – und einer der anderen hilft ihm dabei. Aber, wie das Leben halt so spielt, so einfach ist die Sache dann doch nicht. Das Zusammenleben auf Dauer ist etwas anderes als Urlaub.
Der Alltag in der Villa bringt auch die negativen Seiten der Bewohner ans Tageslicht: Die Eitelkeit des ehemaligen Intendanten, das Missionarische des Lebensmitteltechnologen, die Pedanterie des Juristen, die Experimentierwut des Programmierers und – nicht zuletzt – den Minderwertigkeitskomplex des Ich-Erzählers Ernst, eines ehemaligen Chefredakteurs. Und immer ist da in Gedanken noch der sechste Freund, der kleine Martin, der als Schüler ins Eis einbrach und ertrank. Leichtsinn? Schuld? Auch die Frage wird noch zu klären sein.
Die fünf wollen keine Greisenkommune, aber dass sie alte Männer sind, lässt sich auf die Dauer nicht leugnen. Als der erste richtig krank wird, aktivieren sie das „Todesengelsprogramm“ des Programmierers und stellen eine Hilfe ein, Katharina, eine resolute Kirgisin, die ihre eigenen Pläne hat. Und so geht es dahin mit den fünf Freunden, einer nach dem anderen folgt dem „kleinen Martin“, bis nur noch zwei übrig sind und am Ende keiner mehr. Bis auf Katharina, die das Totenhaus wieder mit Leben füllt – als Waisenhaus. Eine schöne Idee!
Warum aber hat Christoph Poschenrieder diesen in unserer alternden Gesellschaft so aktuellen Roman „Mauersegler“ genannt? Der Ich-Erzähler hat in Brehms Tierleben geblättert und folgendes zu seinem Lieblingstier gefunden: „Der Mauersegler ist ein herrschsüchtiger, zänkischer, stürmischer und übermütiger Gesell, der streng genommen mit keinem Geschöpfe, nicht einmal mit seinesgleichen in Frieden lebt und unter Umständen anderen Tieren ohne Grund beschwerlich fällt.“ „Einer wie wir“, hat Ernst erkannt. Und einer der sich ins Fliegen rettet, weil er sich auf der Erde nicht wohlfühlt. Am Ende, so sinniert der Erzähler, legt der Mauersegler die Flügel an und will nicht mehr fliegen. „So soll es auch mit mir zu Ende gehen.“
Der Fabulierkünstler Poschenrieder schafft es, dem todernsten Thema die heitersten Seiten abzugewinnen. Manchmal lacht man Tränen über die fünf alten Herren, dann wieder kommen einem die Tränen aus Trauer über das unausweichliche Ende, das uns alle erwartet. Das Buch zur Zeit.
Info: Christoph Poschenrieder, Mauersegler, Diogenes,220 S., 22 Euro


Im Zukunftsland

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Gut gemeint ist auch daneben. Martin Walkers „Zukunftsthriller“ Germany 2064 ist ein gutes Beispiel für die Wahrheit, die hinter dieser Volksweisheit steckt. Der schottische Autor, mit seinen Krimis um „Bruno, Chef de police“ bekannt geworden, aber auch Mitglied eines globalen Think Tanks, hat versucht, in seinem Buch, beide Professionen zusammenzubringen und ist grandios gescheitert. Statt sein durchaus imponierendes Wissen in einem Sachbuch zu bündeln, verzettelt er sich in einem mit heißer Nadel gestrickten Krimi-Plot, das nicht nur logische Brüche aufweist, sondern nie so recht zu fesseln vermag. Das liegt auch an den Personen, die so blutleer bleiben als wären sie selbst kaum anders als die vermenschlichten Roboter, um die es in diesem Buch auch geht. Fast schon peinlich platt ist die Liebesgeschichte zwischen dem Kommissar und seiner hochintelligenten ehemaligen Studienkollegin, die sich als Professorin in Robotertechnologie einen Namen gemacht hat. Für die Aufklärung des Krimis um gestohlene Krebsmedikamente, das Verschwinden einer jungen Sängerin und Wirtschaftsspionage bleiben am Ende nur wenige Seiten – und eher schwache Erklärungen. Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass Walker zu viele Fäden in die Hand genommen hat und sie mittendrin nicht mehr entwirren konnte. Schade. Denn die Ideen hinter dem fadenscheinigen Krimi könnten durchaus interessante Denkanstöße liefern.
Da wird vieles angesprochen, was heute aktuell ist: Die Schulen setzen auf kreativen Unterricht, die Landwirtschaft kommt ohne Pestizide aus, die Lebenserwartung ist gestiegen, die CO²-Emissionen sind auf einem Tiefstand, es gibt selbstfahrende Autos und Roboter, die die Arbeit machen. Deutschland ist europaweit Vorbild, auch wenn sich viele Menschen dem bequemen Leben in den hochtechnologisierten urbanen Zonen verweigern und lieber in den „Freien Gebieten“ ein alternatives Leben führen. Jedem Kapitel stellt Walker zudem Auszüge wissenschaftlicher (hin und wieder auch fiktiver) Texte voran, inklusive Quellenangabe – Anleitungen zum Weiterdenken. Zur Utopie taugt das Buch auch nicht, dazu ist Walker zu nah dran an der Gegenwart, wobei die Analyse aktueller Probleme mit Blick auf die Zukunft durchaus reizvoll ist.

Info: Martin Walker, Germany 2064 – Ein Zukunftsthriller, Diogenes, 432 S., 24 Euro

 

Eine Frau auf der Suche nach ihren Wurzeln

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Sie hat eine behütete Kindheit und fühlt sich trotzdem fremd. Weil sie anders aussieht als die anderen, die sie das auch gerne mal spüren lassen. Warum das so ist, weiß das kleine Mädchen nicht. Aber im Alter von zehn Jahren erfährt es durch Zufall, dass es nicht die Tochter seiner „Eltern“ ist. Es wurde adoptiert. „Meine Eltern haben mir, als ich klein war, nicht gesagt, dass ich Chinesin bin und von ihnen adoptiert wurde… Es war für sie einfach kein Thema“, erinnert sich Tinga Horny in dem Buch „Die verschenkte Tochter“.
Die Journalistin beschreibt darin, „wie ich meine leiblichen Eltern suchte und meine wahre Heimat fand“. Das ist schon spannend genug. Aber noch viel spannender sind vor dem Hintergrund der großen Flüchtlingsströme die Erfahrungen die sie mit dem Nicht-Dazugehören gemacht hat, mit dem Anderssein: „Ich konnte es kaum glauben: In Peking passierte mir das Gleiche wie in München. Es war wieder das altbekannte unangenehme Frage-Antwort-Spiel, wie ich es ungezählte Male in Deutschland durchgemacht hatte – nur diesmal mit umgekehrten Vorzeichen… In allen Fällen aber fühlte ich mich sofort aussortiert.“
Es ist ein langer Weg durch die bürokratischen Instanzen in Deutschland, China, den USA und Südamerika, den Tinga Horny gehen muss, bis sie endlich weiß, woher sie kommt – und nach einigen kafkaesken Begegnungen steht am Ende die bittere Erkenntnis: Sie ist das Ergebnis eines Fehltritts. „Ich habe Sie dem Waisenhaus geschenkt und damit die Ehre Ihrer Mutter bewahrt“, sagt ihr der namensgebende Nicht-Vater, und: „Vielleicht hätte ich Sie behalten, wenn Sie ein Junge gewesen wären.“ Das ist hart. Aber auch mit ihrer leiblichen Mutter verbindet Tinga Horny nichts. „Wir haben nie zusammen gewohnt, wir haben nie Krisen gemeinsam durchgestanden und überwunden, wir haben uns nie bis aufs Blut miteinander gestritten, wir haben nie zusammen gelacht und die größten Peinlichkeiten miteinander erlebt.“
Auch deshalb weiß die Autorin am Ende, wo ihre echte Heimat ist. Da, wo die Menschen leben, die sie groß gezogen haben.
Und doch war es für sie wichtig, ihre biologischen Eltern zu finden, damit sie sich nicht länger wie ein „Alien“ fühlt. „Endlich am Ziel angekommen zu sein, hat mir Flügel und ein nie gekanntes Selbstwertgefühl verliehen“, resümiert sie. Und mittlerweile kann sie auch darüber lachen, wenn fremde Menschen sie nach ihrer Herkunft fragen und komisch schauen, wenn sie sagt, sie komme aus Bayern.
Info: Tinga Horny, Die verschenkte Tochter – Wie ich meine leiblichen Eltern suchte und meine wahre Heimat fand, Bastei Lübbe Erfahrungen, 190 S., 8,99 Euro

Scheinwelten

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„Sie sagen immer: Dort ist ein Layer. Du weißt schon, englisch für Schicht. Weil du mit dem Visioner das sehen kannst, was sie wie Schichten über die Wirklichkeit legen.“

Ursula Poznanski hat schon mit ihrem ersten Roman „Erebos“ die Gefahren der neuen technologischen Möglichkeiten aufgegriffen und mit dem intelligenten und gut gemachten Thriller den Jugendliteraturpreis der Jugendjury gewonnen. Jetzt legt die österreichische Autorin noch einmal nach und mit „Layers“ einen All-Age-Roman vor, der sich mit den Möglichkeiten einer Datenbrille befasst. Google glass stand wohl Pate für die Idee, doch das, was Poznanski daraus macht, kann dem Silicon-Valley-Riesen wohl kaum gefallen.
Denn der Visioner, um den es hier geht, bringt nicht nur die Geheimnisse von Menschen ans Licht, er kann sie auch mittels getürkter Botschaften manipulieren. Das muss der 16-jährige Dorian schmerzlich erfahren. Der vor seinem prügelnden Vater auf die Straße geflohene Jugendliche erfährt nach einer Auseinandersetzung mit einem diebischen Penner den Schock seines Lebens. Als er aufwacht, liegt der Mann in einer Blutlache neben ihm. Hat Dorian ihn umgebracht und die Tat verdrängt? Wie gerufen kommt da ein junger Mann, der dem obdachlosen Jungen ein neues Heim verspricht – und dabei scheinbar kaum auf den toten Penner achtet.
Als er in die Villa von Raoul Bornheim kommt, kann Dorian sein Glück kaum fassen. Der Millionär scheint sich für in Not geratene Jugendliche zu engagieren – ohne etwas dafür einzufordern. Doch der erste Eindruck täuscht. Bornheim setzt die Jugendlichen zur Verteilung von Flugblättern und Werbegeschenken ein. Dorian lässt sich zunächst bereitwillig darauf ein, zumal er sich in Stella, ein Mädchen aus der Villa, verliebt hat. Doch irgendwann wird er misstrauisch. Da gibt es zu viele Vorschriften und merkwürdige Farbregeln. Warum bekommt er plötzlich rote Kleidung statt der bisherigen grünen? Warum dürfen die Jugendlichen in der Villa nicht sehen, wo sie steht? Und warum schreckt einer der Adressaten, dem Dorian eines der geheimnisvollen Werbegeschenke überreichen soll, vor der Annahme zurück?
Als Dorian das Kästchen öffnet, macht er sich zum Außenseiter. Denn die Brille, die er darin findet, liefert ihm Wissen, das nie für ihn bestimmt war und ihn zu einer Gefahr für die Drahtzieher hinter der Villa macht. Dorian kann nicht zurück, er wird zum Gejagten, der immer öfter die virtuelle Realität nicht mehr von der Wirklichkeit trennen kann. Am Ende zieht er fatale Schlüsse und arbeitet so denen in die Hände, die ihn von Anfang an manipuliert haben.
Wie immer gelingt es Ursula Poznanski die Leser mit unerwarteten Wendungen zu verblüffen. So hält sie die Spannung bis zum doch noch guten Ende. Die Fragen, die sie in ihren spannenden Thriller verpackt, sind nicht nur für junge Leser wesentlich: Kann ein guter Zweck alle Mittel heiligen, auch die von Terror-Akten? Wie leicht lassen sich Menschen manipulieren, wenn sie am Rand der Gesellschaft stehen? Und schließlich auch: Was ist Realität?
Info: Ursula Poznanski, Layers, 445 S., 14,95 Euro, ab 15

Erzählen gegen das Vergessen

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„Flucht, dachte Salman, ist wie ein Schicksal, wie ein Omen, und stetiger Begleiter der arabischen Kultur. Flucht ist Neubeginn, ist Hoffnung. Sie ist Klugheit, und Klugheit wird oft als Feigheit verstanden.“

Das schreibt einer, der vor 40 Jahren selbst sein Land verlassen hat. Das Land, aus dem jetzt wieder Millionen fliehen: Syrien. Rafik Schami, der große Erzähler, der in Heidelberg studiert hat und in Deutschland als Geschichtenerzähler und Romancier bekannt geworden ist. In seinem neuen Roman „Sophia oder der Anfang aller Geschichten“ lässt er den Syrer Salman nach 40 Jahren zurückkehren an die Stätten seiner Kindheit. 2012, zu einer Zeit, da Syrien noch nicht vom Bürgerkrieg zerrissen, da die Städte noch nicht von Assads Fassbomben zerstört und von den Terrortrupps des IS verheert waren.
„Mich interessiert nicht die Revolution,“ sagte Rafik Schami, als er zu einer Lesung nach Augsburg kam. „Mich interessiert die Zeit davor, wenn die Realität Risse bekommt.“
Auch wenn er schon lange nicht mehr in Syrien war – eine Einladung Assads hat er vor Jahren abgelehnt, Rafik Schami kennt seine Heimat, kennt die unterschwelligen Ängste, die Diktatur, die tief in den Alltag eingreift:

„In jenem Augenblick erkannt ich (ein ehemaliger Mitkämpfer Salmans), dass es in Syrien zwei Ebenen gibt. An der Oberfläche herrscht Frieden, und nicht nur Touristen halten das Land für ein Paradies, sondern auch die Syrer, solange sie die zweite Ebene nicht kennen. Unter Damaskus liegt eine ganze Höllenstadt.“

Gegen das Vergessen hilft das Erzählen, ist die Devise des Rafik Schami. Deshalb schreibt und erzählt er rastlos, kehrt in seiner Fantasie heim in die Gassen von Damaskus, wo er im christlichen Viertel aufwuchs und lässt seine Charaktere in Städten leben, die im Bombenhagel untergegangen sind. Auch der 69-jährige Schami hat noch längst nicht abgeschlossen mit seiner Heimat.

„Vertriebene tragen eine verletzte Seele in sich, und jeder Gedanke an die Heimat wirkt wie Salz auf die offene Wunde.“

Umso mehr, als diese Heimat im Bombenhagel unterzugehen droht. Voll Trauer schaut der Erzähler nach Syrien, das die Sippe der Assads in Geiselhaft zu halten scheint. Schon der Vater des heutigen Diktators, der als Luftwaffenoffizier zum „unheimlichen Herrscher des Landes“ aufgestiegen war, hatte Tausende seiner Landsleute ermorden lassen. Skrupellos opfert auch der studierte Augenarzt Baschar Unschuldige seinem Machterhalt. Und Schami hat Sorgen, dass sich so schnell nichts ändern wird in seinem Heimatland und – in den Nachbarländern, trotz des arabischen Frühlings, der längst in einen Winter gemündet ist.

„In den arabischen Ländern wird es kein Veränderung geben, solange nicht die Struktur der Sippe zerschlagen wird, die uns körperlich und geistig versklavt. Die Sippe baut auf Gehorsam und Loyalität auf und pfeift auf Demokratie, Freiheit oder die Würde des Menschen. Sie durchdringt und zersetzt alles wie ein Pilz.“

Loyalität um jeden Preis, damit fange das Problem der arabischen Gesellschaft an. Die Gesetze der Sippe stünden über dem Staat: „Wir müssen uns von dieser Sippe befreien. Das gilt auch für die Assads.“

Dafür kämpf Rafik Schami auf seine Weise, erzählend. Die Lust am Erzählen hat er wohl schon als Kind in den Straßen von Damaskus aufgesogen. Und wie es die Märchenerzähler in alten Zeiten taten, so webt auch er einen großen Erzählteppich aus vielen Mustern, die er übereinander legt. Das gilt auch für seinen Roman „Sophia oder der Anfang von allem“. Als Leser würde man sich ein Beiblatt wünschen mit allen handelnden Personen, um dem oft mäandernden Erzählfluss folgen zu können.
Doch wenn Rafik Schami auf der Bühne steht wie in Augsburg, wenn er von der klugen Sophia und dem mutigen Karim erzählt, von Salman, der nach 40 Jahren die Orte seine Kindheit wiedersehen will und die Nostalgiereise fast mit dem Tod bezahlt, folgt man problemlos auch den labyrinthischen Gedankengängen. Getragen von der warmen Erzählstimme wird vieles stimmig, was im Buch verwirrt. „Hier bin ich der Erzähler“, sagt Rafik Schami mittendrin im Erzählfluss, und verrät, dass er im Buch hin und wieder Rücksicht auf die Lektoren und Kritiker nehme.
In Augsburg aber führt der Erzähler Regie und lässt sich vom Applaus beflügeln zu immer neuen Gustostückchen wie der Frage, warum 300 Millionen Araber es nicht geschafft haben, einen Krimi zu schreiben, während zehn Millionen Schweden die Welt mit ihren Krimis faszinieren. „Weil es kein Kommissar wagen würde, bestimmte Kreise zu verhören – und eine Kommissarin schon gar nicht.“ Wo andere Autoren sich am Text ihres Werkes festklammern, lässt der promovierte Chemiker seine Zuhörer teilhaben an seinen Gedanken über den Menschen und seine Erinnerungen: „Die Zeit läuft wie ein Akkordeon,“ sagt er, oder „Das Gedächtnis ist eine Stadt mit Gassen und Friedhöfen, mit Wirtshäusern und Gefängnissen – mit allem.“
Wehmut schwingt mit, wenn Rafik Schami vom Damaskus seiner Kindheit berichtet, in dem auch der Großteil des Buches spielt. Ein Hauch von „Es war einmal“ durchzieht den Abend, liegt doch vieles, von dem hier die Rede ist, heute in Trümmern. Die Häuser werde man wieder aufbauen, da ist sich der Deutsch-Syrer sicher. „Was mir Sorgen macht, sind die Trümmer in den Herzen der Menschen.“
Das Publikum folgt jeder seiner Gesten, lacht über die eingestreuten Episoden – und hofft, dass er das Buch zu Ende erzählt. Und der Autor tut ihm den Gefallen trotz gegenteiliger Ansage („Das erzähle ich Ihnen nicht. Das sollen Sie nachlesen“). Nach zwei Stunden hat man das Gefühl, alle Personen aus dem Buch persönlich zu kennen. Der grandiose Erzähler Rafik Schami hat sie zum Leben erweckt.
(Die eingestreuten Zitate stammen aus dem Roman „Sophia oder der Anfang aller Geschichten“, Hanser, 480 S., 24,90 Euro)

Bildmächtiges Plädoyer für die Wüsten dieser Welt

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Am Anfang stand seine Faszination für den Sternenhimmel. Schon als 17-Jähriger fuhr Michael Martin mit einem Freund von Bayern bis an den Rand der Sahara, um den Südsternenhimmel zu beobachten – mit dem Mofa. Von da an war er infiziert. Die Wüsten der Erde wurden Thema des aus Gersthofen bei Augsburg stammenden Diplom-Geographen.
Im opulenten Bildband „Planet Wüste“ zieht der 53-jährige Familienvater nicht nur Bilanz, er will auch die Extremzonen unserer Welt – die Eis- und die Trockenwüsten – mit einander vergleichen. Auf fast 400 Seiten nimmt er die Leser mit auf seine Reisen rund um die Welt und versucht dabei, aus den unterschiedlichen Mosaiksteinen aus 40 Reisen ein „umfassendes Bild des Wüstenplaneten“ zu formen – mit seiner grandiosen Natur und seinen Menschen. 300 000 Bilder hat Michael Martin zu dem Thema durchforstet. Die schönsten und die leuchtendsten finden sich in diesem dicken Buch. Es sind großartige Fotografien, in denen man sich verlieren möchte, Bilder auch, die wehtun angesichts der Gefahren, denen die Sand- und Eiswüsten heute ausgesetzt sind und die auch die dort lebenden Menschen und ihre einzigartigen Kulturen bedrohen. Die Menschen sensibilisieren für die Bedeutung der Wüsten- und Polargebiete möchte Michael Martin mit diesem Buch, er möchte aufrütteln, zum Umdenken anregen. Deshalb sind seine fantastischen Bilder flankiert von kundigen Texten, deshalb kommen im abschließenden Kapitel „Wissen“ auch namhafte Wissenschaftler zu Wort, die sich mit dem Klimawandel und dem Überleben in den Wüstenregionen dieser Welt auseinandersetzen.
Dass es ausgerechnet der Homo sapiens ist, der diese Welt bedroht, darauf weist der Wüstenfotograf immer wieder hin, wenn er das Verschwinden der Regenwälder beklagt, den Hunger der Industrieländer nach Rohstoffen, den Terror, die Umweltverschmutzung. Die Antarktis, schreibt Michael Martin zum Schluss, „erscheint vor diesem Hintergrund wie ein Modell für Frieden und Naturschutz – ohne kriegerische Auseinandersetzungen, ohne Ausrottung von Tieren und Pflanzen und ohne Ausbeutung von Rohstoffen.“ Ein Lichtblick?

Info: Michael Martin, Planet Wüste, Knesebeck, 448 S., 49,95 Euro

 

Glückliches Leben mit vielen Leichen im Keller

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Es ist mal wieder angerichtet bei Ingrid Noll. „Der Mittagstisch“ heißt der neue Krimi aus der  Feder der Grande Dame des deutschen Krimis, die kürzlich ihren 80. Geburtstag feiern konnte.  Hoffentlich bei bester Gesundheit. Immerhin hat sich die alte Dame in 25 Jahren und 17 Büchern jede Menge böser Gedanken von der Seele geschrieben.
Und davon muss sich viel angesammelt haben, bis die zwei Söhne und die Tochter 1991 endlich aus dem Haus waren.
Gängige Hobbys wie Reisen, Lesen,Zeichnen waren der verwaisten Mutter nicht genug. Sie wollte mehr mit ihrer Zeit anfangen und begann Geschichten zu schreiben, so wie sie
es schon als Kind getan hatte. Dass gleich ihr erster Versuch „Der Hahn ist tot“ einschlug, sieht die Autorin als Glücksfall. Geholfen haben ihr dabei ihre leichtfüßige Sprache, die
freundliche Ironie, mit der sie ihre Protagonisten beschreibt, und die Tatsache, dass sie Mord und Totschlag aus der Sphäre des Abnormen in den Alltag zurückgeholt hat. Liest
man nach bei Noll, wird man das Gefühl nicht los, dass jedes Lieschen Müller seine Leichen im Keller hat.
Die Autorin, 1935 in Shanghai als Tochter eines Arztes geboren und später in der Arztpraxis ihres Mannes tätig, kennt sich mit menschlichen Schwächen aus, den körperlichen wie den seelischen. Schon in „Der Hahn ist tot“ zeigte sie, was ihre Krimis ausmacht: Wie ganz normale Menschen, meist Frauen, zu Mördern werden und wie sie
nach vollbrachter Tat weiterleben –ganz ohne schlechtes Gewissen. Rabenschwarz
ist der Noll’sche Humor, das Markenzeichen der Spät-, aber Senkrechtstarterin im deutschen Krimi-Betrieb. „Es macht mir durchaus Freude, über perfide Rache zu schreiben“, sagt sie unverblümt.
Über die Jahre wurden die Protagonistinnen älter, beseitigten aber immer noch lästige Männer und verhasste Rivalinnen. Mitunter bekamen sie Konkurrenz von Jüngeren wie Nelly im „Mittagstisch“, dem neuesten Roman von Ingrid Noll.  Die alleinerziehenden
Mittdreißigerin bekocht ein paar private Gäste und bessert so das Familieneinkommen
auf. Als sie sich in einen Mit-Esser verliebt, dessen Freundin sich als intrigante Nervensäge entpuppt, kocht Nelly ein ganz besonderes Gericht … Doch wie so oft bei Ingrid Noll nutzt es auch Nelly wenig, dass sie die Rivalin aus dem Weg geräumt hat: Der Angebetete entpuppt sich als Langweiler. Die Rache der Mauerblümchen, der zu kurz Gekommenen – das ist Ingrid Nolls immer wiederkehrendes Thema, ihr Erfolgsrezept. Sie kenne ihre Personen gut, sagte die Autorin in einem Zeit-Interview, „ich nehme sie mit in meine Träume, und sie sitzen bei mir auf dem Sofa und trinken Tee.“
Möge Ingrid Noll noch lange mit ihren jungen und alten Mörderinnen Tee trinken und noch viele charmant-amoralische Krimis schreiben. Die Aussichten sind gut: Ihre
Großmutter wurde 105, die Mutter 106. Da hat sie noch einige produktive
Jahre vor sich.
Info: Ingrid Noll, Der Mittagstisch,  Diogenes, 224 S., 22 Euro

Topdog und Underdog

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Er ist ein Dieb, einer, vor dem keine Brieftasche sicher ist. Geld bedeutet ihm nichts. Er stiehlt, um in Übung zu bleiben oder auch um des Hochgefühls willen, das ihn bei erfolgreichen Beutezügen überkommt. Klauen ist für ihn Kunst und kunstfertig ist er. Eigentlich ist dieser Dieb aber ein netter Kerl mit einem guten Herzen. Dass ihm genau das zum Schicksal wird, ist die bittere Ironie dieser seltsam eindringlichen Geschichte, die der Japaner Fuminori Nakamura in einer schnörkellosen Sprache aber mit unerhörter Wucht erzählt.
Sein schmaler Roman, der so harmlos mit diebischen Streifzügen beginnt, spricht existentielle Fragen des Menschseins an. Ohne es zu ahnen ist der Dieb schon lange nicht mehr Herr seines Geschicks. Da kann er sich noch so sehr bemühen, er entkommt dem nicht, was ein scheinbar allmächtiger und allgegenwärtiger Gangsterboss ihm zugedacht hat. Dieser Kizaki, ein wandlungsfähiger Sadist aus den Reihen der japanischen Gangsterorganisation Yakuza, ist ein Strippenzieher aus Leidenschaft. Menschenleben bedeuten ihm nichts. Er inszeniert Morde wie Bühnenstücke. Schicksal, davon ist er überzeugt, „ist wie das Verhältnis zwischen Topdog und Underdog.“ Wobei klar ist, wer hier der Underdog ist oder auch die Marionette. Der Dieb geht buchstäblich durch die Hölle, ehe sich sein Schicksal erfüllt. Oder hat er doch noch eine Chance?
Am Ende findet er eine Münze in seiner sonst leeren Hosentasche. „Dieser Bastard unterschätzt Taschendiebe, dachte ich.“ Und dann schleudert er die Münze in die Luft: „Der Schmerz war fast unerträglich. Die blutrot gefärbte Scheibe schob sich vor die Sonne und leuchtete schwarz am Himmel, als hoffe sie auf ein Wunder.“
Info: Fuminori Nakamura, Der Dieb, Diogenes, 211 S., 22 Euro


Henning Mankells Treibsand: Was bleibt

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Am 8. Januar 2015 erfuhr Henning Mankell, dass er Krebs hat. „Das Gefühl, das mich überkam, war genau wie die Angst vor dem Treibsand“, schreibt der 67-Jährige rückblickend. „Ich sträubte mich dagegen, hinabgezogen und von ihr verschlungen zu werden.“ Gegen diese Angst hat der als Schöpfer des schwedischen Kommissars Wallander weltbekannt gewordene Autor ein Buch geschrieben. Es handelt „von meinem Leben. Dem, das war, und dem, das ist.“
Das kann natürlich kein Roman sein, es ist auch kein Sachbuch geworden, weil das Leben, um das es hier geht, keine Sache sein kann. Vielmehr legt Henning Mankell mit „Treibsand“ eine knapp 400-seitige Betrachtung vor, die er an Erinnerungen festmacht: So erfährt man in dem Buch unter anderem, dass er erst als 15-Jähriger seine Mutter kennengelernt hat, mit welchen Gefühlen er sein erstes Manuskript abgeschickt hat und welche Begegnungen dazu beigetragen haben, dass er sich für ein Leben als Autor entschied und dafür, einen Teil des Jahres in Mozambique zu verbringen und dort eine Theatergruppe aufzubauen.
Der Autor philosophiert über die Höhlenmalereien der Steinzeit und die Megalith-Bauten von Hagar Qim auf Malta ebenso wie über Géricaults „Floß der Medusa“ und Goyas Radierungen, über das Wesen der Zeit und die Zukunft. Er nimmt die Leser mit auf seine Reisen, in seine Träume und seine Gefühlswelten. Nicht immer ist der rückblickende Mankell zufrieden mit sich selbst. Wie andere auch, hat er hin und wieder die falschen Entscheidungen getroffen. Aber er schaut nicht zurück im Zorn. Der Kranke scheint sich ausgesöhnt zu haben mit dem was sein Leben war und ist. Seit der Krebsdiagnose, schreibt er, kämen ihm ganz unerwartete Erinnerungen in den Sinn. In dem Buch teilt er auch sie mit seinen Lesern, die dem sonst eher zurückhaltenden Schweden dadurch unerwartet nahe kommen.
Und doch wäre es falsch, in „Treibsand“ eine Art Biographie zu sehen. Mankell geht es vor allem auch darum, was bleibt, wenn wir nicht mehr sind – vom einzelnen Menschen und von dieser unserer Welt, die seiner Meinung nach mittlerweile so krank ist wie er selbst. Ihr Krebsgeschwür ist der Müll, den unsere Gesellschaft ohne Rücksicht auf kommende Generationen aufhäuft – vor allem der Atommüll. „Wenn alles Übrige von unserer Zivilisation vergangen sein wird, werden zwei Dinge zurückbleiben: das Raumschiff Voyager auf seiner ewigen Reise in den äußeren Weltraum und der nukleare Abfall in den unterirdischen Schächten“, schreibt er. Und doch will Mankell die Erde nicht verloren geben ebenso wenig wie sich selbst. „Für nichts ist es jemals zu spät“, ist er überzeugt. „alles ist immer noch möglich“.
Treibsand ist ein starkes Plädoyer für mehr Menschlichkeit, für Rücksicht, Gerechtigkeit und Toleranz und für ein Umweltbewusstsein, das diesen Namen auch verdient. Und es ist eine Aufforderung an alle, den Mut zu haben, nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Denn „unsere Fähigkeit, uns Fragen zu stellen, macht uns zu Menschen“.

Info: Henning Mankell, Treibsand – Was es heißt, ein Mensch zu sein, Zsolnay, 383 S., 24,90 Euro

Land ohne Hoffnung

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„Wer die Schönheit dieser Erde erleben will, muss nach Pakistan reisen. Hier wird es so heiß, wie es auf Erden nur heiß werden kann. Hier erheben sich schneebedeckte Berge so hoch in den blauen Himmel, wie sie nur hoch sein können. In dichten Wäldern tun sich Lichtungen auf, Bäche plätschern dahin, Fisch darin. Obstplantagen, so weit das Auge reicht. Wüsten, durch die kein Durchkommen ist. Städte, so brodelnd wie eine Megametropole nur sein kann. Relikte alter Kulturen, die vom Beginn menschlicher Zivilisation zeugen. Es ist ein wunderbares Land mit wunderbaren Menschen.“

Wer diese Sätze von Hasnain Kazim als Aufforderung versteht, nach Pakistan zu reisen, hat die vorhergehenden 266 Seiten nicht gelesen. Denn da schreibt der Spiegel-Korrespondent, selbst Sohn pakistanischer Auswanderer, über diesen „Kosmos aus mehreren Parallelwelten“, der für ihn die pakistanische Gesellschaft ist. Er schreibt über die schreckliche Armut der vielen und den unfassbaren Reichtum der wenigen, über die Arroganz der Mächtigen und die Ohnmacht der Masse, über religiöse Fanatiker und lebensferne Diplomaten. „Plötzlich Pakistan“ hat er den Bericht über sein Leben „im gefährlichsten Land der Welt“ genannt. Denn eigentlich wollte Kazim als Spiegel-Korrespondent nach Indien. Weil er da aber unwillkommen war, zog er mit seiner Frau nach Pakistan. Seine pakistanischen Wurzeln waren immer wieder Türöffner, machten ihm aber auch das Leben schwer, weil er zwar aussieht wie ein Pakistaner und Muslim ist, mit den Gepflogenheiten pakistanischer Muslime jedoch nicht vertraut ist. Doch die Leser dieses Buches bekommen durch ihn eine Innenschau des Landes, das einmal ein beliebtes Hippie-Ziel war. Kazim geht mit offenen Augen durch den Alltag, macht sich über die handwerklichen Unzulänglichkeiten lustig und über die eigene Bequemlichkeit, die das Leben mir Personal mit sich bringt. Der Autor konfrontiert die Leser aber auch mit der blutigen Geschichte seines Geburtslandes, mit dem alltäglichen Terror und dem Irrsinn des Atomstaats. Er spricht mit einem jugendlichen „Gotteskrieger“ und dem Henker Pakistans, mit Politikern und Geheimdienstleuten, mit Künstlern und Wohltätern. So rundet sich das Bild eines tief gespaltenen Landes, das dabei ist, seine Zukunft zu verspielen.
Info: Hasnain Kazim, Plötzlich Pakistan – Mein Leben im gefährlichsten Land der Welt, dtv premium, 280 S., 14,90 Euro, ISBN 978-3-423-26077-0

Aung San Suu Kyi: Leben als Ikone

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Sie wird in ihrem Land wie eine Heilige verehrt. Bilder der „Lady“, wie Aung San Suu Kyi im Volk genannt wird, gibt’s heute in jedem Laden. Auch außerhalb ihrer Heimat Burma, die jetzt Myanmar heißt und ein boomendes Tourismusziel ist, erfreut sich die Ikone der burmesischen Freiheitsbewegung höchster Verehrung. „Heldin der Menschheit“ wurde die Tochter des Unabhängigkeitskämpfers Aung San genannt, 1991 erhielt sie den Friedensnobelpreis. Doch inzwischen hat das Image der unbeugsamen Freiheitskämpferin Kratzer bekommen. Vor allem ihr Schweigen zur blutigen Verfolgung der rechtlosen muslimischen Rohingya wird ihr vorgeworfen.
Doch Aung San Suu Kyi, die insgesamt 15 Jahre lang von den Militärs in Hausarrest gehalten und in diesem Jahr 70 wurde, hat noch viel vor. Denn im Herbst wird gewählt – und die „Lady“ könnte Präsidentin werden.
Wie zäh die äußerlich so zarte Burmesin ist, beschreibt Andreas Lorenz in dem Buch „Ein Leben für die Freiheit“. Die Leser erfahren, dass Aung San Suu Kyi in privilegierten Verhältnissen aufwuchs aber durch den Mord an ihrem Vater und den Tod ihres kleinen Bruders traumatisiert wurde. Sie begleiten sie durch ihre Schulzeit in Indien, ihre Studienzeit in Oxford und erste Erfahrungen auf politischem Parkett im UN-Sekretariat in New York. „Anmutig, aufgeweckt und gut informiert“ sei sie gewesen, erinnern sich Freunde, aber auch daran, dass mit ihr nicht zu spaßen war. Nach der Heirat mit dem Oxford-Professor Michael Aris wurde die junge Burmesin erst einmal Mutter und Hausfrau. Doch Ehemann Aris wusste und akzeptierte, dass seine Frau für ihre Heimat brannte. Das Familienglück war denn auch von kurzer Dauer. Schon bald setzte sich die charismatische Aung San Suu Kyi an die Spitze der demokratischen Bewegung, und das Volk jubelte ihr zu. Der Hausarrest, mit dem die Generäle sie in die Knie zwingen wollten, stärkte ihre Widerstandskraft. Lieber ließ sie ihren todkranken Mann allein sterben, verzichtete auf den Besuch ihrer Söhne als Privilegien von den verhassten Militärs anzunehmen.
Erst 2010 öffneten sich die Türen ihres häuslichen Gefängnisses. Seither ist Aung San Suu Kyi viel unterwegs in aller Welt und in der neuen Hauptstadt der Generäle, Napyidaw, wo sie versucht, ihre Politik durchzusetzen.
Andreas Lorenz zeichnet das Bild einer ebenso anmutigen wie eisernen Lady, einer Frau, die alles opfert, um für die Freiheit ihres Landes zu kämpfen. Dass sie dabei auch ziemlich rücksichtslos nicht nur sich selbst gegenüber sein kann, verschweigt Lorenz nicht. Und ganz nebenbei gibt er auch tiefe Einblicke in die blutige Geschichte und Gegenwart eines Landes, in dem 135 Minderheiten plus die staatenlosen Rohingya um ihre Rechte kämpfen, in dem Korruption herrscht und Drogenbarone die Strippen ziehen, in dem das Volk bitterarm und das Bildungssystem desolat ist. Ob man unter solchen Vorzeichen der 70-jährigen Lady zutrauen kann, das Land der Goldenen Pagoden in die Zukunft zu führen?
Simone F. Lucas
Info: Andreas Lorenz, Aung San Suu Kyi – Ein Leben für die Freiheit, C.H. Beck, 336 S., 19,95 Euro, ISBN 978-3406675096

Der Beitrag Aung San Suu Kyi: Leben als Ikone erschien zuerst auf Lilo's Reisen.

Familienaufstellung

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Der Titel ist eher etwas irreführend: „Rosaleens Fest“ suggeriert, Anne Enrights Roman handele von einem Familienfest, ein dankbares Thema in der Literatur und im Film. Dabei hat die irische Autorin das Weihnachtsfest nur zum Anlass genommen, um eine fatale Mutter-Kinder-Beziehung zu thematisieren und das in der ihr eigenen emotionalem Ehrlichkeit.
Rosaleen, eine „Frau, die nichts tat und alles erwartete“, will das Haus verkaufen, in dem ihre vier Kinder groß geworden sind. Zum Weihnachtsfest sollen sie deshalb noch einmal alle zusammen kommen. Die 76-jährige Mutter und „vier Kinder auf der Schwelle zum mittleren Alter“. Die beiden Söhne Dan und Emmet, die sich den mütterlichen Übergriffen durch die Flucht in die Ferne entzogen haben. Der attraktive Dan, der sich nur zögernd zu seiner Homosexualität bekennen konnte und der ruhelose Emmet, der als Entwicklungshelfer seine Bindungsunfähigkeit zu vergessen sucht. Und die ungleichen Schwestern Hanna und Constance, denen es nicht ganz so gut gelungen ist, sich der Einflusssphäre Rosaleens zu entziehen. Die bildschöne Hanna scheitert als Schauspielerin und als Mutter und flüchtet sich in den Alkohol. Die patente Constance scheint die Bürde der Tochter einer fordernden Mutter nie abgeworfen zu haben und leidet unter der Überforderung: „Zwischen Brutpflege und Brustkrebs, zwischen Stillen und Sterben gab es keinen Zwischenraum, jedenfalls keinen, den sie erkennen konnte.“
Enright zeigt alle vier in ihrem so unterschiedlichen Lebensumfeld, ehe sie in dem alten Haus zusammenkommen, dem Archiv ihrer Kindheitserinnerungen. Schon damals war die Harmonie – von Rosaleen dramatisch eingefordert – Fassade. Jetzt ist sie es, die diese Fassade einreißt. Denn mitten im Fest verschwindet Rosaleen, überlässt die Kinder sich selbst und ihren Egoismen. Es hätte eine eine Katastrophe werden können, es ist aber eher eine Art Katharsis. Ein Erkenntnisgewinn für alle Beteiligten, die die Suche nach der Verschwundenen eint: „Sie waren sich der Komik der Situation durchaus bewusst, der Tatsache, dass jedes der Kinder nach einer anderen Frau rief. Eigentlich wussten sie gar nicht, wer sie war – ihre Mutter Rosaleen Madigan.“
Anne Enright konfrontiert die Leser mit einer Familienaufstellung. Es ist die präzise Innenansicht einer „heilen“ Familie, mit ihren Rissen und Abgründen, mit Liebe, Hass und Hassliebe, dem ganzen Kosmos von widersprüchlichen Gefühlen und der Wucht des Unwiederbringlichen. Großartig.
Info: Anne Enright, Rosaleens Fest, DVA, 384 S., 19,99 Euro

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Erstickende Nestwärme

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In Jerusalem hatte die Spiritualität der Chassidim, der orthodoxen Juden, sie fasziniert, die Gemeinschaft, in der sie sich und ihre Liebe zu Chaim aufgehoben fühlte. In London, wo Chaim als angesehener Rabbi tätig ist und nach den Buchstaben jüdischer Gesetze lebt, wird es für Rebekka zunehmend schwerer, diese Faszination nach zu empfinden. Vor allem nach einer Fehlgeburt, bei der Chaim als Mann kläglich versagt hat.
Mit seiner Rigorosität zerstört er auch das Leben seines Sohnes Avromi, der sich nach den Freiheiten sehnt, die seine nicht-jüdischen Mitstudenten genießen. Während Avromis Freund Baruch um das Mädchen Chani wirbt, macht Avromi erste sexuelle Erfahrungen mit der selbstbewussten Shola und stellt sich damit außerhalb der jüdischen Gemeinde. Was die denkt, ist das Wichtigste. Daran halten sich alle in Eve Harris Romandebüt „Die Hochzeit der Chani Kaufmann“.
Auch Chanis und Baruchs Eltern leben nach den strikten Regeln dieser Gemeinde. Es ist eine geschlossene Gesellschaft, in der jede Indidualität im Keim erstickt wird, in der jeder Zweifel schon als Rebellion gilt. Wie soll da eine Liebe gedeihen? Chani und Baruch müssen vor ihrer Hochzeit gegen die Widerstände ihrer Familien kämpfen und nach der Hochzeit darum, zu einander zu finden. Wie einfühlsam Eve Harris die Probleme der unterschiedlichen Paare miteinander verwebt, wie sie mit britischem Humor und jüdischem Witz die nachbarliche Heuchelei entlarvt, das macht ihren Roman zu einem Leseerlebnis und hat ihr zu Recht einen Platz auf der Longlist des Booker Prize eingebracht. Fast wie nebenbei erhalten die Leser auch noch intime Einblicke in das Leben orthodoxer jüdischer Gemeinden.
Info: Eve Harris, Die Hochzeit der Chani Kaufmann, Diogenes, 464 S., 16 Euro

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